Wieso haben Sie diese Aufgabe übernommen?
Ich bin seit 35 Jahren bei der Polizei. Da kommt der Opferschutz meist zu kurz. Denn der Blick geht auf den Täter. Es geht darum, ihn zu finden und dingfest zu machen – was natürlich richtig ist. Aber die Opfer bleiben meist auf der Strecke.
Ihre offizielle Einführung wurde ja – wie so vieles in diesem Jahr – Corona-bedingt abgesagt. Ist es nicht schwierig, Opfern unter diesen Bedingungen überhaupt zu helfen?
Wir versuchen, möglichst alle Beratungen telefonisch zu machen – auch wenn der persönliche Kontakt eigentlich so wichtig wäre. Am Telefon kann vieles nicht so gut besprochen werden. Das geht definitiv ab.
Erhöht das nicht die Angst der Opfer, sich überhaupt beim WEISSEN RING zu melden?
Das könnte ich mir durchaus vorstellen. Vor allem bei häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch. Denn die Angst bei Opfern könnte groß sein, dass der Täter den Anruf mitbekommt.
Machen Sie sich Sorgen?
Wir machen uns sehr viele Gedanken. Zahlen belegen eine Zunahme an häuslicher Gewalt nicht, zumindest nicht in der Region. Aber Gewalt, die in Familien stattfindet, ist da. Und das wird durch Corona sicher nicht weniger, sondern mehr. Die Menschen sitzen aufeinander, stehen unter Stress. Ich befürchte, dass vieles im Geheimen stattfindet.
Wie groß ist das Team des WEISSEN RINGS, das sich um Opfer aus dem Landkreis Traunstein kümmert?
Es sind mit mir drei feste ehrenamtliche Mitarbeiter und drei, die sozusagen in Ausbildung sind. Sie unterstützen uns bereits, müssen aber noch einige Seminare besuchen. Wir sind ein gemischtes Team von drei Frauen und drei Männern, das ist sehr gut. Wenn wir Opfer besuchen oder uns mit ihnen treffen, sind wir immer zu zweit unterwegs. Das dient auch unserer eigenen Sicherheit.
Wie helfen Sie ganz konkret?
Das ist natürlich von Fall zu Fall unterschiedlich. Wir begleiten Opfer zu Gerichtsverhandlungen, organisieren Ferienwohnungen, in die Frauen mit ihren Kindern kurzfristig ziehen können, helfen beim Ausfüllen von Anträgen zum Beispiel nach dem Opferentschädigungsgesetz, stellen Kontakt zu Psychologen her, begleiten Opfer zum Arbeitsamt oder stellen Schecks für Rechtsgespräche bei Anwälten aus.
Wieso ist das wichtig?
Vergewaltigungsopfer etwa müssen wissen, was auf sie zukommt. Diese Rechtsgespräche finden oft vor einer Anzeige bei der Polizei statt. Denn die Scham ist groß. Viele haben große Angst, zur Polizei zu gehen. Bei den Rechtsgesprächen werden die einzelnen möglichen Schritte durchgesprochen. Das beruhigt die Frauen.
Sie begleiten sie dann auch zu der Gerichtsverhandlung?
Ja, wenn die Frauen das möchten. Wir dürfen mit vorne sitzen. Das hilft vielen. Denn oft fühlen sie sich verloren im Gerichtssaal. Wir setzen uns zwischen Opfer und Täter und unterbinden damit auch einen Blickkontakt.
Wieso ist die Dunkelziffer bei sexuellem Missbrauch und häuslicher Gewalt so groß?
Da spielt das Schamgefühl eine ganz große Rolle. Und es gibt auch viele Frauen, die denken, häusliche Gewalt sei ganz normal. Sie denken, sie seien selbst schuld. Denn sie bekommen immer wieder zu hören 'hättest Du mich nicht provoziert, dann...'.
Gibt es in Bezug auf die Dunkelziffer einen Unterschied zwischen Stadt und Land?
Ich würde fast sagen: Je ländlicher es ist, desto schwieriger wird es. Denn jeder kennt jeden. Da geht es um den Ruf. Des Weiteren plagen Frauen oft finanzielle Sorgen. Sie wissen nicht, wie es ohne den Mann weitergehen soll. Also bleiben sie lieber.
Wenden sich mehr Frauen als Männer an den WEISSEN RING Traunstein?
Definitiv. Ich kann mich nur an zwei Männer erinnern, seit ich mich beim WEISSEN RING engagiere.
Um was ging es?
Einer der beiden wurde vor vielen, vielen Jahren sexuell missbraucht. Er wollte Hilfe und Rat in Sachen Opferentschädigung.
Hilft es Ihnen für Ihr Engagement, dass Sie bei der Polizei arbeiten?
Ich denke schon. Ich bin ja keine Beamtin, sondern bei der Polizei angestellt. Wenn ich von einer Straftat erfahre, muss ich also nicht handeln – auch wenn wir meist zu einer Anzeige raten. Aber da müssen wir wirklich jeden Fall genau anschauen. Wenn ein Opfer Anzeige erstatten will, dann sind es kurze Wege und der persönliche Kontakt mit meinen Kollegen, der vieles einfacher macht.
Gibt es einen Fall, der Sie nicht mehr loslässt?
Nein, kein einzelner. Es ist immer der aktuelle Fall, der mir im Kopf rum geht. Aber man darf die Geschichten nicht nach Hause nehmen.
Und das gelingt?
Eigentlich schon.
Sind Sie und Ihre Mitstreiter jederzeit erreichbar?
Ja, ich habe das Telefon immer dabei. Wenn ich gerade nicht hingehen kann, rufe ich innerhalb von 24 Stunden zurück.
Wie geht es dann weiter?
Nach einem kurzen Erstgespräch, das ich führe, wird gemeinsam entschieden, wer den Fall von uns übernimmt. Wer Hilfe braucht, kann sich jederzeit unter Telefon 0151/55 16 47 27 bei uns melden. Alle Anrufe werden vertraulich behandelt. Und ganz wichtig: es werden nur Schritte unternommen, die die Opfer auch gehen möchten.
Der WEISSE RING hilft Kriminalitätsopfern – 50.000 Mitglieder
Der WEISSE RING wurde am 24. September 1976 in Mainz als »Gemeinnütziger Verein zur Unterstützung von Kriminalitätsopfern und zur Verhütung von Straftaten e. V.« gegründet und zählt aktuell rund 50 000 Mitglieder. Im Landkreis Traunstein sind es 98 Mitglieder.
Unabhängig von Geschlecht, Alter, Religion, Staatsangehörigkeit und politischer Überzeugung erhalten Opfer von Kriminalität möglichst schnell Hilfe. Zu diesem Zweck hat der WEISSE RING ein deutschlandweites Netz von rund 2900 ehrenamtlichen Opferhelfern in mehr als 400 Außenstellen aufgebaut. Eine davon ist die in Traunstein, die nun von Sabine Kurz geleitet wird. Im Berchtesgadener Land ist Inge Bernecker-Krause zuständig. Sie ist unter Telefon 0151/55 16 47 37 zu erreichen.
Opfer einer Straftat sollen das Gefühl haben, nicht vergessen worden zu sein. Finanziert wird die Arbeit des WEISSEN RINGS aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden, Geldbußen und testamentarischen Zuwendungen.
Die ehrenamtlichen Mitarbeiter erleben derzeit eine nie da gewesene Herausforderung. Beratung und Hilfen müssen während der Corona-Pandemie vor allem per Telefon oder per Mail und weniger im direkten, persönlichen Kontakt geleistet werden. - Klara Reiter